Was hat Intelligenz mit Wissen zu tun?
Begabung, Potenzial, IQ – mit diesem Thema bewege ich mich auf dünnem Eis. Ich wage es trotzdem.
«Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heisse und ein tiefbegabtes Kind bin.» Als ich diesen Satz las, blieb mir zuerst der Atem stocken. Dann musste ich laut lachen. Die Aussage stammt übrigens aus dem Sprach- und Lesebuch: Rico, Oskar und die Tieferschatten. Geschrieben von Andreas Steinhöfel. Später fragte ich mich: Was läuft in unserer Diskussion um Begabung falsch? Weshalb sprechen wir so gerne von Hochbegabung, finden für Tiefbegabung «mildernde» Umschreibungen, während die «durchschnittliche Begabung» ein Tabu ist? Ein Schüler sagte mir einmal: «Wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass es bei diesem Thema eigentlich um einen Machtkampf unter den Erwachsenen geht.» Er war sehr begabt.
Aber zurück zu Rico. Diesen klugen Beobachter habe ich von der ersten Seite an in mein Herz geschlossen. Weil er sich so viele Gedanken macht, erstaunliche Rückschlüsse zieht und versucht, als tiefbegabtes Kind seinen Weg zu meistern. Zum Glück trifft Rico im Laufe der Geschichte auf Oskar, ein hochbegabtes Kind. Sie kämpfen mit denselben Problemen im Alltag, auch wenn sie auf der IQ-Kurve jeweils ans andere Ende platziert wurden. Beiden fällt es schwer, Freundschaften zu schliessen und Erwartungen aufgrund ihres diagnostizierten IQs zu erfüllen. Sie empfinden ihre Art zu denken anders, für andere nicht verständlich und fühlen sich deshalb oft nicht dazugehörend. Wäre es da nicht eine logische Schlussfolgerung, dass die «durchschnittlich begabten Kinder» erfolgreich und unbelastet durch Schule und Berufsfindung laufen? Davon abgesehen: Was verstehen wir überhaupt unter durchschnittlich Begabten?
Natürlich begegne ich diesem Thema in meiner Praxis. Ganz generell gilt, unabhängig vom IQ: Je besser das Potenzial eines Menschen mit seiner gezeigten Leistung übereinstimmt, umso ausgeglichener und motivierter ist er. Egal, ob das im musischen, schulischen, sportlichen oder in einem sehr spezifischen Teilbereich ist. Dass dies geschehen kann, dafür sind alle gemäss ihren Möglichkeiten in der Verantwortung – die begleitenden Erwachsenen ebenso wie der Betroffene selbst. Es kann aber auch Stress entstehen, nämlich dann, wenn ein Lernender sein Potenzial dauernd bis zur Grenze ausschöpfen und zeigen soll. Vielleicht will oder kann er es in seiner gegenwärtigen Lebensphase gar nicht, weil er mit anderem beschäftigt ist oder andere Prioritäten setzt. Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich war in meinem Leben nicht jederzeit bereit, mich maximal anzustrengen, schon gar nicht in der Pubertät. Oft genügte mir ein «hinreichend gut». Es ist also weniger eine Wertung als vielmehr eine Lebensphase.
Martin Seligman schreibt in seinem Buch: «Es gibt keine Abkürzung zum Flow. Ganz im Gegenteil: Ein Mensch muss all seine Kräfte und seine höchste Begabungen aufwenden, um der Welt im Zustand des Flows begegnen zu können» (Flourish – wie Menschen aufblühen). Diesen Flow – sich und die Zeit zu vergessen, ganz im Einklang zu sein mit dem, was ich tue – das wünsche ich allen immer wieder. Denn hier kommt die Begabung zum Tragen. Ob es die Kreation eines Desserts ist, eines Musikstücks, eines Bildes, eines Projektes... ist Nebensache.
Genauso sieht es Michael Winterhoff, dass Begabung alleine nicht ausreicht: «Anstrengung ist – anstrengend.» Lernen auch! Diese Fähigkeit hat mit Entwicklung zu tun, mit einer Haltung, oft auch mit Reife, um mit seiner Begabung entsprechend Erfolg zu erzielen. Denken Sie an Roger Federer. Hätte er sich nur auf sein Talent verlassen, ohne Anstrengungsbereitschaft, sein Leben wäre anders verlaufen.
Leidet ein Kind oder ein Jugendlicher über längere Zeit an seiner Schulsituation, empfehle ich dringend eine Abklärung bei einer Fachperson. Zum Beispiel beim schulpsychologischen Dienst, im Kinderspital oder beim Kinderarzt. Denn jedes Kind wird entmutigt, wenn es auf die Dauer unter- oder überfordert ist. Vielleicht sind auch ganz andere Themen der Grund für die belastende Situation. Noch wahrscheinlicher ist die Kombination verschiedener Faktoren, die sich gegenseitig begünstigen.